21. August 2023
Lego® Serious Play® – Ein bisschen Spiel, ein bisschen Neuroanatomie und ein ganz eigener Zauber
Kurz vor 9 Uhr trudeln die Workshop-Teilnehmerinnen und -Teilnehmer allesamt in den Workshopraum ein und staunen erst einmal nicht schlecht. Bunte Lego-Steine liegen auf Tischen im ganzen Raum verteilt. Während die einen auf die Tische zulaufen und begeistert anfangen Steine zusammenzusetzen, heben andere eher skeptisch die Augenbrauen. Die Frage, die sie umtreibt, steht ihnen klar ins Gesicht geschrieben: „Warum sollen erwachsene Menschen bei einem Strategie-Workshop mit bunten Steinchen spielen, wo doch richtige Themen bearbeitet werden müssen?“ Ich lese den Gedanken richtig und gebe den Workshop-Teilnehmern erst einmal Produktinformation. Ein kleiner Beipackzettel zu einer ungewöhnlichen Methode hat schon oft Wunder bewirkt.
Was also ist dieses „Lego Serious Play“ genau?
Lego Serious® Play® ist eine Methode, die 2002 von Lego® und dem International Institute for Management Development (IMD) in Lausanne herausgegeben wurde. Während bei Lego® das Patent für ihr Stecksystem ausgelaufen ist und sie auf eine wirtschaftliche Krise zusteuerten, suchte das IMD nach neuen Möglichkeiten Ideen für Organisationsentwicklungs- und Strategie-Projekte umzusetzen. Und weil sich eben findet, was sich wirklich sucht, fanden auch diese beiden Organisationen sich und gestalteten zusammen etwas Neues und Kreatives: Unternehmensstrategieentwicklung mit Kinderspielzeug. Das funktioniert wie folgt: Workshop-Teilnehmerinnen und -Teilnehmer bekommen ein fixes Set mit Lego® Steinen und bauen sich im wahrsten Sinne des Wortes ihr perfektes Unternehmen. Sie nutzen die Steine, um ihre Wünsche, ihre Werte und ihre Leitideen auszudrücken und darüber zu sprechen.
„Wie soll das denn bitte gehen?“, fragt eine Dame und schiebt nervös ihre Brille etwas höher auf die Nase. Anscheinend befürchtet sie, den Anforderungen des Tages nicht gerecht werden zu können. Auch bei anderen Teilnehmern macht sich Unruhe breit. Ich lächle der Dame aufmunternd zu und erkläre der Gruppe, dass Lego® Serious Play ja ein angeleiteter Prozess ist, der über kleine Übungen zum Tagesziel hinführt. „We’re getting there!“, beruhige ich die Dame mit einem Augenzwinkern. Die Dame nimmt einen Stein und dreht ihn nervös zwischen den Fingern. Sehr gut! So muss es sein! Einfach mal fühlen.
Lego als Türöffner zum Unbewussten
Lego® SeriousPlay klingt vielleicht erst mal nach verrückter Hippie-Idee, lässt sich aber wissenschaftlich mit der Neuroanatomie des Menschen erklären. Wenn Menschen über Ideen und Wünsche sprechen, aktivieren sie hauptsächlich die Hirnareale, die auf Sprache spezialisiert sind. Hände sind allerdings noch mit einem viel größeren Areal der Hirnrinde verbunden und wenn Menschen Lego-Steine anfassen, in den Fingern kreisen lassen, ineinanderstecken und wieder auseinanderziehen, werden zusätzlich ganz andere Hirnvernetzungen aktiviert. Diese Netze führen bis hinunter ins Emotionszentrum des Gehirns, wo menschliche Gefühle, Wünsche und Bedürfnisse gespeichert werden. Hier verbirgt sich das berühmte Unbewusste, welches menschliches Verhalten steuert, ohne dass man darüber nachdenkt. Das Unbewusste leitet die menschliche Logik und nicht (wie sich viele wünschen) andersrum. Es ergibt also Sinn, das Unbewusstsein und seine Gefühle, Ideen und Bedürfnisse mit auf den Tisch zu bringen — in diesem Fall sehr wortwörtlich in Form von Lego®-Figuren. Das Bauen mit Lego® Steinen erlaubt, das Unbewusstsein bewusst zu aktivieren und es gestalten zu lassen. Plötzlich werden Mauern gebaut, weil man sich ausgeschlossen fühlt, rote Steine rausgepickt, weil Wut oder Leidenschaft hochkommt und Türme miteinander verbunden, weil man sich nach mehr Austausch sehnt.
Ein Workshop-Tag mit gutem Ende
Auch dieses Mal stehen (nach ein paar Vorübungen) elf aufwändige Modelle auf den Tischen. „Wow, die sind ja richtig toll geworden!“, begeistert sich meine Projektassistentin. Ich gehe zu der Dame mit der nervösen Brille und bitte sie, mir ihr Modell zu erklären. Die Verwandlung ist beeindruckend: Die nervöse Dame von vor zwei Stunden richtet sich auf und es sprudelt nur so aus ihr heraus, was sie da zusammengebaut hat, was diese Metaphern für sie bedeuten, was sie sich für die Zukunft davon ableiten kann. Nach fünf Minuten muss ich sie etwas einbremsen und lade die Runde zu Fragen zum Modell ein, während ich wild alle ihre Interpretationen mitschreibe. „Daraus lässt sich doch eine Unternehmensstrategie ableiten“, denke ich noch, als die Gruppe für die Teilnehmerin applaudiert. Denn der Workshop-Tag ist noch nicht gelaufen. Das Unbewusste liegt jetzt auf dem Tisch — jetzt müssen wir bewusst damit weiterarbeiten. Aber bei dieser Gruppe wird das auch wunderbar funktionieren.
Autorin: Dr. Gudrun Reindl